Das soziale Gewissen der Ärzte und Pflegekräfte
Die Lage spitzt sich immer mehr zu. Sogar Der Spiegel hat sich im Dezember des Themas angenommen: Zustände in Kliniken. „Krankenfabrik“, „Klima der Angst“, usw. waren die Überschriften. Es ging um einen großen Klinikkonzern in Deutschland. In den sozialen Medien ist ebenfalls viel darüber zu lesen, wie schlecht es um einen steht, sollte man selbst oder ein Angehöriger medizinische Behandlung benötigen. Von schlecht gelauntem, unqualifizierten Personal ist die Rede. Behandlungsfehler. Unnötige Operationen oder intensivmedizinsche Interventionen.
Die Liste ließe sich sicher um einiges verlängern.
Ich frag mich derweil, wie geht es Ihnen, liebe MitarbeiterInnen im Krankenhaus, liebe ÄrztInnen und Pflegekräfte, wenn Sie tagtäglich Höchstleistung mit viel Engagement bringen, dabei enorm unter Zeitdruck sind, alles geben – und trotzdem reicht es nicht (mehr)? Wie geht es Ihnen, wenn Sie sich mit solchen Berichten konfrontiert sehen? Gehören Sie schon zu denen, die immer noch ihr Bestes geben, weil Ihnen die PatientInnen am Herzen liegen? Obwohl Sie selbst längst am Limit sind und der Druck des Systems noch mehr drückt? Übernehmen Sie Dienste und Schichten zur Krankheitsvertretung, weil Sie die KollegInnen und PatientInnen nicht im Stich lassen können oder wollen, obschon Ihnen der freie Tag so wichtig war?
Wie geht es Ihnen, wenn Ihre Berufsgruppe im negativen Fokus steht? Beschleicht Sie ein Gefühl der Ohnmacht? Oder ein „ich mach eben das Beste draus“? Zählen Sie die Jahre bis zur Rente? Denken Sie, Sie könnten ohnehin nichts machen?
Wer kann es wieder menschlicher machen im Krankenhaus?
Sie nicht, denn Sie sind ja nur da angestellt. Oder?
Ich gebe zu, das ist eine provokative These. Es ist jedoch zu beobachten, dass für viele MitarbeiterInnen an Patienten die (berufliche) Kraft gerade für die Arbeit reicht. Sie sind vielleicht auch der Meinung, dass, falls Sie in irgendeiner Weise aktiv werden würden, es sich ohnehin nur um einen Tropfen auf den heißen Stein handeln würde. Was sich natürlich keinesfalls lohnen würde. Meinen Sie. Und die KollegInnen sind auch nur schwer zu bewegen, Energie in die Frage zu stecken, was man dringend verändern sollte und könnte. Sie haben es ja bestimmt schon probiert mit Ideen – und wurden nicht gehört oder Ihre Idee wurde ganz schnell wieder verworfen.
Ja, es ist auf den ersten Blick nicht leicht, sich für große Veränderungen auf den Weg zu machen. Trotzdem – stellen Sie sich vor, Sie könnten Ihrer anspruchsvollen und komplexen Tätigkeit in der dafür wirklich notwendigen Zeit nachgehen. Sie haben Zeit, Ihren PatientInnen und den Angehörigen ihre Fragen in Ruhe zu beantworten. Sie auf ihrem Weg zu begleiten. Dazu gehört einfach das Gespräch. Stellen Sie sich vor, Sie tauschen sich im Team über beste Möglichkeiten für Ihre PatientInnen aus – Ärzte und Pflegekräfte zusammen. Ohne Hetze.
Stellen Sie sich vor, Sie haben bis zum Arbeitsende Ihr Pensum geschafft, so dass Sie zufrieden und erfüllt nach Hause gehen.
Ich höre es förmlich, wie Sie ein „Das geht doch schon lange nicht mehr! Von was träumt die Wüstholz denn da?“ vor sich hin murmeln und dabei den Kopf schütteln.
Was zählt?
Was zählt für Sie in Ihrem Leben? Ganz persönlich? Was sind die Werte, die Ihnen wichtig sind? Das können Werte sein wie Zeitsouveränität, Leidenschaft, Gerechtigkeit, Sicherheit, Selbstbestimmung, Respekt. Natürlich gibt es noch ganz andere Lebenswerte. Was ist Ihrer? Und lassen sich Ihre Werte mit Ihrem beruflichen Alltag vereinbaren? Oder leben Sie täglich dagegen an?
Wie wichtig ist es Ihnen ganz persönlich, sich nicht als ohnmächtiges Rädchen im System Gesundheitswesen zu fühlen, sondern mutig und souverän mitgestalten zu können?
Ich behaupte, oft geht mehr, als Sie glauben. Ich möchte Sie einladen, einen Moment für sich ganz persönlich innezuhalten. Erlauben Sie sich, darüber nachzudenken, was Ihnen für Ihren Berufsalltag wichtig ist. Sind Sie zufrieden, wie es für Sie läuft? Prima, dann weitermachen.
Und Sie? Nein? Ein erster Schritt in Richtung Veränderung ist, diese Überlegungen überhaupt zuzulassen – ohne sich ins „Tal des Jammerns“ zu begeben. Denken Sie zurück, wie es war, als Sie in Ihren Beruf gestartet sind, als Sie noch voller Enthusiasmus und Energie waren.
Können Sie Teile davon wiederbeleben? Möchten Sie? Denn, wenn Sie in Ihrem Berufsalltag wieder der Mensch sein können, der seine Werte lebt, dann ist das schon ein erster Schritt in Richtung „wieder menschlich sein“ im Krankenhaus. Lust?
Weil Sie es sich selbst wert sind!